Luftfracht: Mehr Transparenz in der Pharma Supply Chain
Luftfracht: Mehr Transparenz in der Pharma Supply Chain
IT-Plattform Mytigate unterstützt Supply Chain Risiko Management der Pharmaindustrie
Die deutsche Pharmaindustrie ist mit einem Umsatz von knapp 42 Mrd. EUR im Jahr 2017 einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige in Deutschland. Die zunehmende Globalisierung von Produktion und Vertrieb stellt alle Beteiligten der Pharma Supply Chain vor komplexe Herausforderungen und führt zu einem Anstieg der Güter, die per Luftfracht transportiert werden. So lag der Wert der pharmazeutischen Produkte, die per Luftfracht von und nach Deutschland befördert wurden, 2016 bei rund 118 Mio. EUR. Problematisch hierbei ist, dass bei Luftfrachttransporten durch die vergleichsweise hohe Anzahl von Schnittstellen und Supply Chain Partnern die Quote der Unregelmäßigkeiten – insbesondere beim temperaturgeführten Produkt – deutlich höher liegt als beim See- und Landtransport.
Nach Aussagen der International Air Transport Association (IATA) verzeichnen rund 20% der temperaturgeführten Pharmaprodukte eine Unterbrechung der Kühlkette oder starke Temperaturabweichungen. Entsprechend wächst der Druck auf die global agierende Pharmaindustrie und ihre Supply-Chain-Partner, hier eine Verbesserung zu erreichen.
So fordern bspw. die Good Distribution Practice (GDP)-Richtlinien der Europäischen Kommission von den Pharmaunternehmen ein Risiko-Management für den Transportweg ein, um mehr Transparenz und Sicherheit entlang der Supply Chain vom Pharmaproduzenten bis zum Endkunden zu erreichen. Entsprechend wächst bei Produzenten, Großhändlern und Logistikdienstleistern der Wunsch nach einem intelligenten IT-System zur Visualisierung der Risiken entlang der Transportkette.
Transparenz und Sicherheit
Das praxisbezogene Forschungsprojekt „Pharma Supply Chain Risk Management in der Luftfracht“ der Frankfurt University of Applied Sciences (FRA UAS) greift diesen Wunsch auf: Projektleiterin Yvonne Ziegler, Professorin für Luftverkehrsmanagement an der FRA UAS, arbeitet deshalb gemeinsam mit den Partnern – Hochschule RheinMain, Hochschule Fulda, Bayer, Boehringer Ingelheim Pharma, Frigo-Trans und GEFCO sowie Cynatics Consulting – daran, eine wissenschaftliche Risikomanagement IT-Plattform zu entwickeln, die alle Teilnehmer der Supply Chain vernetzt, einheitliche Kompetenzen abfragt, externe Risiken integriert und daraus resultierend nicht nur reaktive Empfehlungen gibt, sondern insbesondere präventive im Sinne eines lernenden Supply Chain Designs.
Der Fokus liegt auf der Luftfrachtlogistikkette, doch langfristig soll die IT-Plattform auf alle Verkehrsträger sowie auf andere Branchen erweitert werden.
Innovationsgrad und Alleinstellungsmerkmal
Aktuell gibt es noch kein vergleichbares Produkt auf dem Markt, das der Pharmaindustrie ein wissenschaftlich abgesichertes Risikomanagement bietet. Diese Marktlücke wird das Entwicklungskonsortium, das alle Rollen entlang der Supply Chain repräsentiert, mit der geplanten IT-Plattform schließen. Diese wird entwickelt von Mytigate, einem Start-up mit Sitz in Wiesbaden, das aus dem Forschungsprojekt „Pharma Supply Chain Risk Management“ der Frankfurt UAS hervorgegangen ist. Das Forschungsprojekt startete im September 2017 und läuft bis Ende 2019. Die Gesamtausgaben werden mit rund einer Mio. EUR beziffert. Das Land Hessen unterstützt das Forschungsprojekt (Projektnummer 555/17-37) im Rahmen der LOEWE 3-Förderrichtlinie mit einem Fördervolumen von knapp 500.000 EUR. Die Projektpartner tragen die andere Hälfte.
Entscheidender Vorteil von Mytigate ist seine Neutralität. Unter der Leitung der FRA UAS ist es Mytigate möglich, Standards bei der Risikobewertung zu setzen – in Kooperation mit dem oben genannten Projektteam und einem umfassenden Beirat aus Branchenvertretern wie der IATA, dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), dem Regierungspräsidium Darmstadt als Regulierungsbehörde, der Aircargo Community Frankfurt und weiteren Unternehmen aus der Pharmaindustrie (Merck, Roche Diagnostics, Sanofi-Aventis Deutschland, R-Biopharm) sowie der Logistikdienstleistung (DB Schenker Deutschland, Bolloré Logistics) und der Luftfracht (Lufthansa Cargo, Flughafen Düsseldorf Cargo).
Umfassende Möglichkeiten
Um das Projektziel zu erreichen, sind umfassende Vorarbeiten zu leisten. Das Team modellierte zunächst die Pharma Supply Chain mit allen Partnern und Schnittstellen. Im zweiten Schritt wurden Risiken identifiziert, kategorisiert und Einflussgrößen definiert. Anschließend wird ein Standard für die Erfassung der Capabilities der Partner festgesetzt und entsprechende Daten für ausgewählte Lanes erhoben. Dann werden den Lanes Sendungsqualitätsdaten der Pharmaunternehmen gegenübererstellt und ein Risikomodell entwickelt, das auch Daten aus weiteren qualitativen Risikoindikatoren integriert, die vorab von allen Teilnehmern der Supply Chain gemeinsam definiert, erhoben und bereitgestellt werden.
Zu den theoretisch ermittelten Risikokennzahlen wird ein Abgleich mit den real erlebten Unregelmäßigkeiten der Pharmaunternehmen und Spediteure vorgenommen (Root Cause Data), um dann eine Einschätzung aus Theorie und Realität zu generieren. So kann Mytigate dem Pharmaproduzenten nicht nur ein standardisiertes Verzeichnis von Partnern und ihren Fähigkeiten entlang einer bestimmten Transportroute zur Verfügung stellen, sondern wählt ihm die Transportwege und -partner mit dem geringstmöglichen Risikopotenzial aus.
Auf diese Weise ermöglicht Mytigate den Pharmaunternehmen, Zeit und Kosten zu sparen, und hilft diesen auch bei der Qualifizierung neuer Routen. Die erhaltenen Risikoinformationen lassen sich zudem gegenüber Behörden verwenden, um dort die Dokumentation über Entscheidungen valide vornehmen zu können.
Blockchain als Schlüsseltechnologie
Gemeinsam mit dem IT-Unternehmen GFT Technologies (GFT) wird zurzeit eine Blockchain-Anwendung zur Überwachung und Nachverfolgung von pharmazeutischen Lieferketten auf Basis der Distributed-Ledger-Technologie (DLT) entwickelt.
Mit Hilfe der DLT lassen sich die Abläufe aller an der Lieferung beteiligten Unternehmen nachhaltig verbessern. Denn bei DLT handelt es sich um eine spezielle Form der elektronischen Datenverarbeitung und -speicherung. Als Distributed Ledger oder „verteiltes Kontenbuch“ wird eine dezentrale Datenbank bezeichnet, die Teilnehmern eines Netzwerks eine gemeinsame Schreib- und Leseberechtigung erlaubt. Eine besondere Ausprägung der DLT ist die Blockchain.
Mytigate liefert GFT hierbei die pharmalogistischen Fachkenntnisse und marktnahen Analysen. Bislang ist die Sendungsverfolgung von Arzneimitteln weder einheitlich noch effizient, da bspw. die Dokumentation an den Übergabepunkten der Pharmasendungen noch sehr manuell und in Papierform erfolgt.
Die von GFT erstellte Blockchain-Anwendung ermöglicht den Nutzern künftig, Arzneimitteltransporte digital zu dokumentieren, sie effektiv zu planen und auf der ganzen Welt nachzuverfolgen. Alle an der Lieferung beteiligten Unternehmen können – jederzeit nachvollziehbar – die Details des Transports erfassen. Transparenz und Sicherheit insbesondere im Hinblick auf die Übergabepunkte in der Supply Chain werden mit der Planungs- und Tracking-Anwendung insofern realisiert, da den Supply-Chain-Partnern Abweichungen und Unregelmäßigkeiten sofort in der Blockchain unveränderbar und somit valide dokumentiert werden. Das ermöglicht den Pharmaunternehmen dann auch, ihre Entscheidungen gegenüber Behörden zu dokumentieren. Gleiches gilt für die Supply-Chain-Partner, die ihre Zertifikate gegenüber Behörden und Partnern nachweisen wollen.
Künftig eine kommerzielle Version der gemeinsam entwickelten Lösung anzubieten, ist Ziel von Mytigate und GFT. Der nächste Schritt in der Entwicklung ist die Testphase, in der erste Nutzer aus der Pharma- und Logistikbranche die Funktionalitäten des Prototypen in realen Anwendungsfällen testen.
Online Quelle: https://www.chemanager-online.com/themen/logistik
Autor(en): Prof. Dr. Yvonne Ziegler und Astrid Kramer, Frankfurt University of Applied Sciences